Erdbeben im Epizentrum

Wenn man bei 37 Grad Celsius ohne Schatten und Wind über die Ruinen einer 2000 Jahre alten Stadt läuft, dann ist es gut möglich, dass das Gehirn Seinszustände annimmt, die man sonst eher einem Topf Nudeln nachsagt. Wenn ich bei 37 Grad Celsius ohne Schatten und Wind durch die Ruinen der antiken griechischen Stadt Korinth laufe und mein Kopf sich anfühlt wie ein Topf heißer Spaghetti, neige ich zu mehr oder weniger philosophischen Ausbrüchen. Habe ich getestet. Diesen Sommer. Jetzt verstehe ich ein wenig besser, warum Paulus gelegentlich hitzige Briefe an seine Gemeinden schrieb und warum ein Orakelspruch, der entweder "ja" oder "nein" bedeuten kann, nicht immer ganz eindeutig ist. Genau da, beim Orakel und seinen Sprüchen, bei Pythia in Delphi, kochte mein Gehirn dann vollends über. Denn während ich dabei war, durch die letzten noch stehenden Säulenreihen des Tempels die wunderbare Landschaft außenherum zu bewundern, wurde mir plötzlich klar, dass es immer nur eines geben konnte: Entweder, durch Ruinen die eindrucksvolle Umgebung bestaunen oder aber innerhalb großer noch intakter Gebäude eben jene zu bestaunen. Entweder der Weitblick oder der Nahblick. Und weil das Gehirn gerade so schön in Fahrt war, erinnerte ich mich an ein Erlebnis etwa ein Jahr zuvor. Ich war in Rom, aber nicht irgendwo in Rom. Ich war im Peterdom. Aber nicht irgendwo im Petersdom. Ich war unter dem Petersdom, in einer der Kapellen, die dort unten sind. Zusammen mit anderen jungen Leuten feierten wir eine Messe, Sonntagvormittag, come sempre. Bis plötzlich der Boden unter meinen Füßen zu schwanken begann. Interessant, an was man in solch einem Moment denkt. Einer sagte mir nachher, er habe sich gedacht: "Eigentlich nicht schlecht, so nahe am Apostel Petrus begraben zu werden." Ich erinnere mich nicht mehr daran, was ich dachte, sondern daran, was ich vor meinem inneren Auge sah. Ich sah das goldene Kreuz auf der Kuppel des Petersdoms wanken, ich sah die Kuppel fallen und einstürzen. Ziemlich dramatisch, ja. (An dieser Stelle einen Dank an alle Regisseure apokalyptischer Hollywood-Streifen, auch wenn ich diese nie gesehen habe) Es war der Ausläufer eines Erdbebens in Norditalien, doch bis ich begriff, dass es das war, war der Moment auch schon vorbei.

In Griechenland, bei Sonnenuntergang in Delphi, fiel mir diese Szene wieder ein. Und damit dieTatsache, dass das Orakel, die unzähligen Tempel, auch einmal feste und ewig-unveränderliche Symbole gewesen waren. Und dass sie doch fallen mussten. Zweifellos wird auch das Kreuz auf dem Petersdom eines Tages fallen. Weil der Dom zerstört wird, von Menschenhand oder der Natur, wer weiß. Und vielleicht werden dann Jahrhunderte später Menschen virtuell über die Trümmer wandern und sich die Geschichte des Christentums anhören. In Delphi ist es nicht anders. Der Unterschied allerdings wird sein, dass es auch dann immer noch Menschen geben wird (und die sind tatsächlich unsere Schwestern und Brüder, so wie für uns heute die Gemeinden in Korinth und Thessaloniki Schwestern und Brüder und irgendwie auch wir selbst sind), die glauben und wissen, dass die Evangelien keine bloßen Mythen aus alter Vorzeit sind, sondern die immer noch eine lebendige Hoffnung leben werden, sich zum Gebet und Gotteslob treffen werden, vielleicht anders als wir heute. Aber im Gegensatz zu Delphi, bei dem es längst keine Pythia mehr gibt, keine Priester und keine aus einer Erdspalte quellenden Gase, wird Christus immer noch in seiner Kirche da sein. Und daran wird ihn auch kein Erdbeben im Epizentrum oder an der Peripherie hindern, denn der Geist Gottes ist ja bekanntlich erfinderisch.

Ich glaube, das ist mehr als nur beruhigend. Das ist ziemlich genial.