Näher zu Dir

Es regnet in Strömen und ich frage mich, ob die Arche Noah wohl Fenster hatte. Manchmal ist es besser, Regen und Sturm nicht zu sehen. Das Wetter zu hören, kann schon genügen, um in den so viel gerühmten "Herbstblues" zu fallen. Trotz besseren Wissens schaue ich aus dem Fenster und beobachte, wie Sturm und Regen aus dem goldenen Oktober einen grauen November machen. Die Blätter fallen nicht mehr sanft und langsam vom Baum, der unnachgiebige Wind hat sie dieser Anmut beraubt. Sie fallen schwer und nass, wie die vielen Regentropfen und bilden auf dem Gehsteig einen rutschigen Teppich. Gott sei Dank muss ich nicht aus dem Haus, der kurze Weg zum Sonntagsgottesdienst und zurück hatte genügt, um mir zu geloben: "Für den Rest des Tages werde ich das Sofa nicht mehr verlassen." Immerhin ist es da warm und ich kann mich meiner Melancholie hingeben. Wie immer im November gehen mir  Gedanken über die Endlichkeit allen Seins durch den Kopf. Aber diesmal ist es anders. Irgendwas stört. Irgendwas, das nicht mit Regen und Sturm draußen zu tun hat. Die Unruhe hat mich wieder gepackt. Dieselbe Unruhe, die ich immer spüre im November zwischen Sturm und Regen und die erst aufhört, wenn es zu schneien beginnt. Es ist keine lähmende Unruhe, sie ist weder ängstlich noch übermächtig. Sie ist lebendig. Anfang November hatte ich durch Zufall eine Version des Liedes "Näher mein Gott zu Dir" gehört, die genau diese Unruhe in mir auszudrücken scheint. Man sagt, dass die Passagiere der sinkenden Titanic dieses Lied im Angesicht des Todes angestimmt hätten und auch auf Beerdigungen wird es oft gespielt. Doch in der Version, die ich entdeckt habe, erzählt mir das Lied keine Geschichte vom Tod, sondern vom Leben: Näher, mein Gott zu Dir, näher zu Dir. Es ist dynamisch, freudig, erwartungsvoll. Eben einfach lebendig. In dieser Jahreszeit, in der ich normalerweise darauf warte, dass der erste Schnee fällt, dass es endlich Dezember wird, dass endlich die erste Kerze brennt, dass es endlich Punsch und Lebkuchen gibt, dass endlich... - ja, was eigentlich? Dass endlich der Herr kommt?

Oft beobachte ich am Bahnhof, wie sich Menschen in die Arme fallen. Da ist jemand angekommen und ein anderer hat auf ihn gewartet. Ich habe noch nie beobachtet, dass nur der Ankommende auf den Wartenden zugegangen wäre. In dem Moment, in dem einer den anderen in der Menge entdeckt, beginnt er loszulaufen, bahnt sich einen Weg durch die Menge. Und in der Mitte treffen sich die beiden. Manchmal hört man dieses Aufeinandertreffen auf dem ganzen Bahnsteig, so fröhlich und herzlich ist das dann. Eigentlich schön. Vermutlich werde ich bei dem Aufeinandertreffen "Ich und Gott" immer diejenige bleiben, die zuerst entdeckt wurde - aber deshalb einfach auf dem Sofa sitzen bleiben und darauf warten, dass Sturm und Regen aufhören?